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Rückzugsmöglichkeiten - geschätzt & unterschätzt
CHANGE 4 SUCCESS | Change Management Training Coaching Mediation
In seiner Studie "Office Analytics" hat das Fraunhofer Institut untersucht, welche Art des Arbeitens Mitarbeiter bevorzugen: den stillen Rückzug oder Teamarbeit?
Immerhin 48 Prozent wünschen sich mehr Ruhe, um konzentriert zu arbeiten. An ihren Schreibtisch sind sie nicht unbedingt gebunden: Einen ruhigen Ort auf Terrasse würden sie ebenso schätzen.
Teamarbeit und Kollaboration sind in aller Munde. Wird eine Idee erst einmal zum Trend, macht sie sich häufig selbständig: Sie wird zum Mantra und droht, unreflektiert umgesetzt zu werden.
Unternehmen begeben sich auf einen fragwürdigen Pfad, wenn sie die Kollaboration fördern, weil sie glauben, die Mitarbeiter wollten es so. 30 Prozent der Mitarbeiter sind unzufrieden mit der Arbeitssituation in ihrem Unternehmen. Sie suchen mehr Ruhe.
Sind die Menschen unkommunikativ? Wollen sie ihr Wissen für sich behalten? Wie kommt es zu diesem ausgeprägten Rückzugsbedürfnis?
Wir haben einen Software-Entwickler gefragt, wie er Zusammenarbeit und konzentrierte Arbeit balanciert. Er ist Senior und fachlicher Leiter einer Abteilung in einem größeren mittelständischen Betrieb - eine überlegte, gleichwohl sprachgewandte Persönlichkeit, von ihrer Aufgabe überzeugt und absolut willens, das Notwendige zu geben, um die angestrebten Ziele zu erreichen.
Welche Faktoren fördern den Wunsch nach Rückzug und Ruhe?
Die Persönlichkeit. Von Intros und Extros.
Auch unser Gesprächspartner ist eine introvertierte Persönlichkeit - typisch für so viele IT-Fachleute. Intros haben mit einer ganzen Reihe von Vorurteilen zu kämpfen:
Sie sind angeblich schüchtern. Reden nicht gerne und mögen keine Menschen.
Nichts davon stimmt. Doch in unserer tendenziell extrovertierten Kultur weichen sie mit ihrem Verhalten von den Erwartungen ab.
Intros brauchen Stille, um sich zu regenerieren
Introvertierte lieben die Gemeinschaft und Zugehörigkeit wie Extrovertierte auch. Doch sie schöpfen ihre Kraft aus der Stille. Es lässt sich physiologisch nachweisen, dass sie Reize intensiver wahrnehmen und gründlicher verarbeiten als Extros. Und dafür brauchen sie Stille.
Im Gespräch laden sie quasi ihren Arbeitsspeicher voll. Ist das geschehen, ziehen sie sich gerne zurück. Dann beginnt die Verarbeitung. Extrovertierte treffen sich abends mit Freunde, um Kraft für den nächsten Tag zu schöpfen. Introvertierte sehnen sich im Anschluss an einen bunten Abend nach einem freien Tag.
Verschonen Sie einen introvertierten Mitarbeiter von einer unübersichtlichen, unruhige und quirligen Umgebung. Sie raubt ihm die Kraft.
Sie denken alleine und diskutieren gemeinsam
Viele Extrovertierte sind Sprechdenker. Erst im Austausch mit anderen kommen sie in Fahrt und entwickeln Ideen.
Anders Introvertierte: So lange jemand spricht, sind sie mit der Aufnahme beschäftigt. Frei denken können sie erst wieder, wenn sie Ruhe haben. Geben Sie ihm also Zeit, ein paar Gedanken aufzuschreiben und diskutieren Sie anschließend. So entsteht einfach mehr Ergebnis.
Den Austausch wird der Introvertierte schätzen, doch erwarten Sie keine Geistesblitze während des Gesprächs. Der stellt sich eher im Nachgang ein.
Introversion hat mit Schüchternheit nichts zu tun. Wenn Menschen jedoch immer gespiegelt bekommen, dass etwas mit ihnen nicht stimmt, können sie schüchtern werden.
Die Darstellung hier ist sehr schematisch. In der Praxis finden Sie zwischen extremen Extros und extremen Intros alle Varianten. Im Prinzip stimmt es aber schon: Introversion beschreibt eine Art, wie eine Person Informationen verarbeitet und wie sie Kraft schöpft.
Sprechen Sie einen Intro in einer ruhigen Umgebung auf sein Thema an und freuen sich auf einen inspirierenden Austausch. Sie werden sich wundern, was er Ihnen im Vier-Augen-Gespräch alles erzählt! Und zwar mit Begeisterung. Auch unser Senior hat es so bestätigt.
Aufgaben
Für alle, die konzentriert arbeiten wollen oder müssen, sind Großraumbüros einfach schrecklich. Unser Gesprächspartner erzählte uns von vielen Jahren, die er in einem Großraumbüro verbracht hat und den unzähligen Tagen, an denen er erst nach 17.00 Uhr zum Programmieren kam. Zuvor war es einfach zu laut. Wie soll einer komplizierte Ursache-und-Wirkungsketten durchdenken oder eine Architektur aufbauen, wenn direkt nebenan der Drucker rattert? Oder wenn das Dokumentationsteam zwei Tische weiter den ganzen Tag über notwendige (!) Abstimmungsgespräche führt?
Wie viele Kollegen trug auch unser Gesprächspartner während der Arbeit einen Noise Cancelling Kopfhörer. Über den Produktivitätsverlust, der über die Jahre entstanden ist, möchte man gar nicht erst nachdenken.
Es gibt Aufgaben, die dem Wesen nach Ruhe und Konzentration verlangen: Software-Entwicklung, konzeptionelle Arbeit und Schreiben gehören dazu - um nur einige zu nennen. Die Arbeitsumgebung sollte die Produktivität unterstützen, nicht behindern. Für solche Arbeiten sind Rückzugsräume wahre Produktivitäts-Booster.
Stressmomente
Unser Senior arbeitet schon weit über zehn Jahre in seinem Unternehmen. Während der Zeit hat er eine ganze Reihe von Projekten geführt oder begleitet und viel Knowhow aufgebaut. Die Kollegen schätzen seine Kompetenz und sprechen ihn an, wenn sie nicht weiter wissen. An manchen Tagen nimmt die Schulung der Kollegen solche Ausmaße an, dass er nicht mehr zum Entwickeln kommt.
Der Software-Entwickler hilft gerne. Doch der Spagat zerreißt ihn: Das, was er als seine eigentliche Aufgabe empfindet, steht zu oft hinten an.
Manche Entwickler greifen auf verzweifelt-spaßige Maßnahmen zurück, um sich die nötige Ruhe zu verschaffen. Sie heften sich zum Beispiel einen Zettel auf den Rücken mit der Aufschrift: "Ja, es geht mir gut. Es ist alles in Ordnung. Lass mich bitte arbeiten."
Für solche Situationen brauchen Mitarbeiter Unterstützung vonseiten der Organisation - etwa Vereinbarungen über Ruhephasen oder Rückzugsräume. Zudem ist die Schulung der Kollegen eine Leistung, die oft genug unbemerkt bleibt. Sie ist wichtig und kostet Zeit. Stress entsteht aus dem Gefühl, weder den Kollegen noch der zugewiesenen Aufgabe gerecht zu werden.
Mit dem Ausflug in die Welt eines Software-Entwicklers wollen wir Ihnen deutlich machen, dass die Bereitschaft zur Zusammenarbeit von vielen Faktoren abhängt: Persönlichkeit, Situation, Aufgabe und organisatorischen Bedingungen. Nicht-Reden-Wollen kann ein Motiv sein, doch viele andere Gründe sind ebenso wahrscheinlich.
Quelle: "Office Analytics", Studie des Fraunhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation 2018.