Überall sprechen wir von flachen Hierarchien und agilen Arbeitsmethoden. Werden wir in Zukunft ausschließlich agil und ohne jede Hierarchie arbeiten? Die Frage stellt sich Bernhard von Mutius in seinem Buch "Disruptive Thinking".
Von Mutius hat eine andere Erwartung. Er zieht den Vergleich mit der modernen Malerei: Nachdem die starren Vorgaben in der Malerei überwunden waren, entstanden zahlreiche Strömungen, Richtungen und Stile – solche, die sich gegenseitig befruchteten und solche, die sich widersprachen. Die Künstler haben experimentiert und probiert, womit sie gut zurecht kommen.
Vergleichbares erwartet von Mutius für die Unternehmen: Viele Unternehmen testen schon heute, was zu ihnen passt. Demokratie? Teilhabe an der Verantwortung? Freies Denken? Auch in Zukunft wird es verschiedene Standpunkte dazu geben. Manche Unternehmen lassen sich darauf ein, andere nicht.
Vielfalt als soziale Normalität
Eine pardoxiefreie Organisationslandschaft sei einfach nicht zu erwarten, glaubt von Mutius. Ähnliches hätten Rebellen aller Epochen erfahren müssen: Das Neue löst das Alte nicht einfach ab. Vielmehr kommt es zu Überlagerungen. Das Alte und das Neue vermischen sich und gehen „hybride“ Verbindungen miteinander ein.
Zu Beginn ist das Neue fremd. Organisationen versuchen, es abzustoßen oder zu absorbieren, wenn dies nicht gelingt. Damit neue Impulse nicht sang- und klanglos verschwinden, müssen Führungskräfte drei Aufgaben meistern.
Bernhard von Mutius spricht von drei Prüfungen:
Die erste Prüfung
Die Führungsspitze muss das Neue nicht nur zulassen, sondern wirklich wollen. Die Vorreiter und Neuerer brauchen Rückendeckung und eine schützende Hand.
Nach der Vorstellung von Bernhard von Mutius sollen die Neuerer nicht etwa gegen die alte, funktionale Organisation arbeiten, sondern mit ihr zusammen. Von den Führungskräften fordert dies eine starke, integrative Leistung ab. Eine anspruchsvolle Aufgabe, die bei der Firma Bosch nicht ohne Grund den Namen „Funktionale Excellenz“ trägt.
Die zweite Prüfung
Die zweite Aufgabe liegt darin, Menschen zu fördern, die sowohl in der alten wie auch in der neuen Welt beheimatet sind – insofern also zweisprachig denken und sprechen können. Ihre Aufgabe ist es, in schwierigen Situationen Übersetzungsleistungen zu erbringen. Von Mutius nennt sie "T-Leader". Gemeint sind Menschen, "die fachliche Tiefe und Expertise entwickelt haben und zugleich interdisziplinär, übergreifend denken können". Das „T“ symbolisiert zudem die "Ambidextrie", also die Fähigkeit, Widersprüche fruchtbar zu machen.
Die dritte Prüfung
Versteht es die Führungskraft, die Beteiligten zu verbinden, so dass sie sich gegenseitig helfen und unterstützen – oder behält das alte Konkurrenzdenken die Oberhand? Wenn die dritte Prüfung gelingen soll, bedarf es einer tiefgreifenden Veränderung der Unternehmenskultur. Silo- und Konkurrenzdenken sind weit verbreitet und tief verankert. Doch in einer modernen Kultur haben sie nichts verloren.
Von Mutius schreibt anschaulich und zieht zahllose Vergleiche und Praxisbeispiele heran.
Viele seiner Gedanken sind regelmäßigen Lesern des CHANGE 4 SUCCESS Newsletters vertraut: Wenn wir in der neuen Welt bestehen wollen, sind wir auf Kreativität, Schnelligkeit, Flexibilität und den vollen Einsatz aller Mitarbeiter angewiesen. Auch von Mutius propagiert deshalb Aufmerksamkeit, Respekt, Wertschätzung wie auch die Freiheit zum Querdenken. Von Mutius bietet seinem Leser nicht etwa neue Denkschablonen an. Vielmehr steckt er einen Raum ab, innerhalb dessen erfolgversprechendes, neues Denken fruchtbar werden kann. Großen Wert legt er darauf, dass wir nicht wissen können, was die Zukunft bringt. Wir sollten das Nicht-Wissen bewusst in unsere Überlegungen einbeziehen.
Die digitale Revolution schafft technische Möglichkeiten, die wir mit Kreativität und Schöpferkraft füllen müssen. "Disruptive Thinking" ist die "Reflexion der Disruption". Wir sollten uns immer Zeit zum Denken nehmen, mahnt von Mutius. Für Effizienz sorgen Maschinen ohnehin besser als wir. Ähnlich wie Extremkletterer, Snowborder und Freeride-Profis sollten wir uns immer der Gefahren bewusst sein und zugleich Vertrauen haben, zu überleben.
Quelle: Bernhard von Mutius , Disruptive Thinking: Das Denken, das der Zukunft gewachsen ist, GABAL Verlag; Auflage: 1 (13. September 2017)